Verlorene Menschen (Mt 18,14)
Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng, und der Weg dorthin ist schmal.
Deshalb finden ihn nur wenige. (Mt 7,14)
Hallo Du,
in dieser Woche bin ich wieder einmal herausgefordert zu vertieftem Nachdenken über
Begabungen und Eigenschaften, wozu wir sie haben und wie wir damit umgehen. Leider
nicht immer im Sinne Gottes. Auf falschen Wegen kann man sich leicht in ein erbärmliches
Dasein verlieren.
In diesem Zusammenhang denke ich an Menschen aus meinem Umfeld. Bei einigen erkenne
ich ein gefährliches Abtriften bzw. schon vorhandene Verlorenheit. Ich erkenne das, weil ich
selbst schon in diesem vertrackten Zustand war oder manchmal wieder hineinrutsche. Darin
fühlt man sich unglücklich, verloren und vergessen und weiß nicht recht warum das so ist. Es
gibt einen Weg zurück zu Heil und Gesundheit. Deshalb schreibe ich darüber.
Was ist ein verlorener Mensch? Ein verlorener Mensch ist sich seiner selbst nicht sicher, ist
auch vor sich selbst nicht sicher. Er ist ein Mensch, der seine Bestimmung, seinen
Lebenssinn, seinen Weg und sein Ziel nicht mehr kennt. Er hat sich irgendwohin verirrt und
irgend worin verfangen. Er hat sich auf Abwege begeben und den Kontakt zu Gott und/oder
zu bewahrenden Mitmenschen verloren. Ihm ist nicht recht bewusst, dass er seine Liebe,
seine Freude und seinen Frieden verliert oder bereits verloren hat.
Die Bibel berichtet in Lukas 15 von drei Gleichnissen, in denen etwas oder jemand verloren
geht und wiedergefunden wird:
1. Da ist zunächst das verlorene Schaf, das sich aus irgendwelchen Gründen von der Herde
und ihrem Schutz entfernt. Waren es Naivität, Gedankenlosigkeit, Leichtsinn, Übermut oder
neugieriger Entdeckergeist, die es in die Irre führten? Oder waren es Freiheitsdrang oder
Hunger auf Erleben, auf Besseres oder Mehr, auf grüneres Gras, auf ein schöneres und
leichteres Leben, auf Wohlstand, Bequemlichkeit, Aufmerksamkeit oder Anerkennung, die es
auf Abwege brachte? Weshalb verließ es die Herde, seine Familie, die Gemeinschaft und
darin den Halt, die Sicherheit und Ordnung, den eigenen Platz und die Geborgenheit?
Worauf war sein Sinnen und Wollen gerichtet? Welchem Begehren war es erlegen.
Was trieb es an, sich von den anderen zu entfernen? Es wird im Bibeltext nicht gesagt.
Das verlorene Schaft hatte nicht nur sein Heim, seine Herde, seine Beziehungen verloren,
sondern auch seine Orientierung. Aus eigener Kraft konnte es nicht mehr zurückfinden.
Wie ist das bei uns? Wer vom rechten Weg abkommt und sich verirrt, merkt es irgendwann.
Zunächst sollten wir dann herausfinden, wonach wir suchten, was uns so verlockte, was
unsere Schwachstelle war. Und dann sollten wir laut und anhaltend um Hilfe blöken, bis ein
Hirte uns findet und in unsere Herde zurückbringt, damit wir wieder ins Lot kommen,
ausgeglichen, heil und gesund werden.
2. Danach verliert eine Frau eine Münze, etwa ein Zehntel ihres Monatsgeldes. Die
Ernährung und Versorgung ihrer Familie und Kinder sind gefährdet. Es wird nicht mehr
ausreichen. Deswegen zündet sie eine helle Lampe an, stellt das Haus auf den Kopf und
bringt Licht in jede dunkle Ecke. Sie sucht so lange, bis sie die Münze endlich wiederfindet.
Im Gleichnis verliert die Frau ’nur‘ Geld. Bei uns könnten es auch der Verlust von Ehre und
Anstand, von Hoffnung, Mut oder Selbstvertrauen, von Reinheit, Unschuld, Unversehrtheit
oder Gottvertrauen sein oder gar von Liebe und Freude, Frieden und Geduld, Freundlichkeit,
Güte und Treue, Besonnenheit und Selbstbeherrschung. Diese inneren Werte, sind ohne
himmlische Erleuchtung nicht so leicht wiederzufinden.
3. Im dritten Gleichnis geht es um den verlorenen Sohn, einen Sohn, der sich den häuslichen
und familiären Verpflichtungen entziehen will und mit der Auszahlung seines Erbteils auch
entzieht. Er möchte endlich frei und unabhängig sein, sein Leben genießen, auf den Putz
hauen und es sich in mannigfaltigen Verlockungen und Lüsten gut gehen lassen.
Das kann ja auf Dauer nicht gutgehen. Irgendwo in der Ferne ist dann das Erbe verprasst und
er einsam, verarmt und am Ende. Mit letzter Kraft, reumütig und demütig aber hoffend,
kehrt er zum Vater zurück. Der hatte ihn nie aufgegeben und stets auf seine Rückkehr
gewartet. Schon von weitem sieht er ihn kommen, läuft ihm entgegen, schließt ihn in seine
Arme und nimmt ihn in Liebe wieder auf. Keine Vorwürfe, nur Freude und darin stille
Vergebung.
Aus diesen Gleichnissen ergibt sich folgende Erkenntnis:
Das verlorene Schaf braucht einen liebevoll suchenden Hirten, Jesus, der es findet und zu
Gott und seiner beschützten Herde zurückbringt.
Die verlorene Münze, der verlorene Wert, braucht jemanden, der mit Hilfe des himmlisch-
erhellenden Lichts, des helfenden Geist Gottes, hartnäckig sucht, damit sie gefunden wird.
Und der verlorene Sohn braucht ein heilsames Erschrecken, ein sich seiner verfahrenen
Situation bewusst werden, eine geistliche Erleuchtung und Hoffnung, um nachhause
zurückzukehren und vom Vater wieder barmherzig in die Familie aufgenommen zu werden.
Was haben Schaf, Münze und Sohn gemeinsam? Sie haben ihren Hirten und Herrn verloren
und damit die Nähe zu Gott, die Gemeinschaft mit ihm sowie die Führung durch ihn.
Was hat sie sich verlieren lassen?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Waren es vielleicht
– eigene Krankheit oder der Verlust eines geliebten Menschen?
– falsche oder nicht getroffene Entscheidungen?
– Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit, Unwissenheit oder Leichtgläubigkeit?
– übertriebener Selbstbezug, Gier oder Sucht?
– Suche nach Unabhängigkeit und Streben nach Selbstverwirklichung?
– Rebellion gegen Menschen oder Strukturen?
– Überforderung in Familie, Beruf oder Alltag?
– Lieblosigkeit von Eltern oder Mitmenschen?
– Ängste, Misstrauen, Misserfolge, Minderwertigkeitsgefühle oder Verbitterung?
– Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit oder innere Leere?
– falsche Werte und Ziele oder überzogene Erwartungen und Vorstellungen?
– Mitlaufen im Zeitgeist oder ein Sich verlieren im Überfluss?
– falsche Vorbilder oder Freunde?
– Unkenntnis der eigenen Schwächen und Stärken?
– Orientierungslosigkeit in der Gottesferne, die zu eigener Stärke zwingt?
Wo zeigt sich ihr Verloren sein?
In ihrem Denken, in ihren Gefühlen und ihrem Verhalten. Beispielsweise neigen sie zu
Extremen, zu Hyperaktivität oder Depression. Sie halten sich für etwas Besseres oder sie
fühlen sich Minderwertig. Sie überkompensieren durch (Schein-)Erfolge oder sie schämen
sich ihrer selbst, machen sich selbst schlecht und damit kopfkrank und leiden darunter. Sie
flüchten sich in ablenkende Aktivitäten oder sie ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück.
So oder so, sie nehmen sich selbst zu wichtig und stehen sich damit selbst im Weg. Im
schlimmsten Fall haben sie die Hoffnung verloren, gefunden, respektiert, geliebt und so
angenommen zu werden, wie sie gerade sind. Ohne Hoffnung gibt es keine Besserung ihrer
Situation und keine Rückkehr in Freude, Friede und Lebenslust.
Was brauchen verlorene Menschen?
1. Gemeinschaft. Einerseits die Gemeinschaft in der Familie, in der Gemeinde, im Verein
oder mit Freunden, also mit Menschen im gemeinsamen Sein und Tun. Sie brauchen
gegenseitiges anregen, einnorden, ergänzen und ausgleichen. Andererseits auch
Gemeinschaft mit Gott, der sie echt und bodenständig hält und zu gesunder
Lebenseinstellung zurückführt.
Gemeinschaft gibt ihrem Leben wieder Bindung und Beziehung, Geborgenheit, Halt und
Sicherheit, Struktur, Ordnung und Korrektur, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Einbindung,
Ermutigung, Trost und Anteilnahme. In der Gruppe finden sie Anerkennung, Wertschätzung
und Bestätigung, Lebenssinn und Erfüllung, ihren Platz im Leben.
Die Gemeinschaft braucht Buntheit, Individualität, Unterschiedlichkeit, die bereichert sie.
Die Gemeinschaft gibt ihnen angemessene Führung und Aufgabe. Die Gemeinschaft gibt
ihnen Möglichkeiten, sich selbst aus dem Fokus zu nehmen, sich anderen zuzuwenden, ihnen
mit ihren Begabungen zu dienen sowie ihre Form von Liebe zu entwickeln und zu schenken.
2. Führung. Die Führung geschieht durch Vorbild, Anleitung, Lehre, Erfahrung und Weisheit.
Ein offenes Ohr, eine helfende Hand, ein rechtes Wort zur rechten Zeit, eine Gehhilfe beim
Straucheln, Ermutigung in Niederlagen, Beratung in Not, Trost in Trauer, Zielorientierung auf
dem Weg. Solche Führung wird uns nur in einer Gemeinschaft zuteil.
3. Aufgabe. Aufgaben in der Gemeinschaft geben dem Leben Sinn. Sie sind Herausforderung
aus Bequemlichkeit. Sie bauen auf Begabungen auf und ermöglichen deren Übung und
Entfaltung. Sie geben Korrektur, Bestätigung und Erfahrung und sie bewirken Bewährung mit
Zuversicht.
Das Ergebnis davon sind ‚wiedergefundene‘ Menschen, geheilte Menschen, die zu Gott und
ihrer Mitte, die in ihre wohltuende Herde zurückgefunden haben. Sie sind geheilt an Körper,
Geist und Seele. Sie haben ihren Wert wiedergefunden. Stefan Zweig schrieb einmal: „Wer
einmal sich selbst gefunden hat, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.“
Der gefundene Mensch wird wieder gefüllt mit Gottvertrauen, Frieden, Geduld und
Gelassenheit sowie mit der Einsicht, dass jeder Mensch von Gott gesucht wird, weil er
geliebt ist und, dass er mit seinen besonderen Fähigkeiten in der Gemeinschaft gebraucht
wird, zum Wohl des Ganzen. Der ‚von Gott gefundene‘, der ‚zu Gott Gefundene‘ wird
angefüllt mit belebendem und erfüllendem Geist, der die innere Leere, also Sinnlosigkeit und
Unzufriedenheit, Unorientiertheit und Ziellosigkeit, durch Liebe, Verständnis und
Selbstannahme ersetzt.
Jesus sagt in Mt 18,14, dem Leitvers:
Mein Vater will nicht, dass auch nur einer, und sei es der Geringste, verloren geht.
Amen.
Nachtrag
Ich habe von Beisetzungen gehört, bei denen nur der Pfarrer und der Bestatter anwesend
waren. So kann es enden. Das schmerzt mich. Für diese vergessenen Menschen habe ich ein
Gedicht geschrieben:
Der einsame Tote
Ein Mensch, er lebte, ist gestorben,
War denn sein Leben so verdorben?
An seinem Grabe keiner steht.
Niemand in Trauer von ihm geht.
Wer war dieser ungeliebte Gast?
War denn sein Leben nur Streit und Hast?
War er verbittert, vereinsamt, verloren?
Wozu nur – wurde er einst geboren?
Himmlischer Vater, so soll das nicht sein!
Ohne Freunde erlitt er wohl Pein.
Ohne Liebe war sein Leben sehr schwer.
Und ohne Lebensfreude quälte er sich sehr.
Ich baue auf dein großes Erbarmen.
Nimm hin, diesen toten Beziehungsarmen.
Vergebe ihm, was er getan.
In Frieden ruhe er fortan.
Ein Leben darf nicht nutzlos sein.
Gedenket seiner, ladet Gäste ein.
Öffnet eure Herzen für einsame Seelen.
In jedem Menschen findet man Juwelen.
