Unter Schmerzen geboren
Hallo Du,
liebe Mutter,
lange hast Du mich genährt und gewärmt,
geschützt und getragen.
Du warst für mich Wohnung und Heimat,
Himmel und Erde,
solange, bis ich vollkommen war,
reif zum ‚Geboren werden’.
Ich bin aus Dir entstanden
und durch Dich geworden.
Du hast mich unter Schmerzen geboren
und unter Entbehrungen groß gezogen.
Du hast mich umsorgt,
mir Deine Liebe geschenkt
und mir Deinen Mut und Deine Ausdauer gezeigt,
Deine Entschlossenheit und Dein Mitgefühl.
Aber ich habe auch Deine Schwächen gesehen,
Deine Ängste und Hoffnungen,
manchmal auch Deine Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Du hattest viel Geduld mit mir.
Du hast mich vorbehaltlos angenommen;
Du hast mir vieles gezeigt und beigebracht;
Du hast immer an mich geglaubt,
mir vertraut und für mich gehofft;
Du hast das Besondere
und das Liebenswerte in mir gesehen;
Du hast mich unterstützt und gefördert,
wo immer Du konntest;
Du hast mich immer wieder ermutigt,
angeregt und zur Selbständigkeit geführt.
Du hast mir gezeigt, was Liebe vermag.
Es ist mir eine große Ehre,
dass Du meine Mutter bist,
dass ich Mutter zu Dir sagen darf,
dass Du für mich gelitten,
und Dich mit mir und für mich gefreut hast
und immer noch freust.
Heute bin ich selbst erwachsen
und erkenne langsam, was es heißt,
für jemanden liebevoll verantwortlich zu sein
und wie viel Hingabe erforderlich ist,
um Rückschläge zu überwinden
und sie in Erfolgen zu verwandeln.
Indem Du mich unter Schmerzen geboren hast,
habe auch ich gelernt,
Leid zu ertragen und Schmerz zu überwinden;
dem, was mir schwerfällt,
besondere Aufmerksamkeit zu schenken
und es mit besonderer Hochachtung anzunehmen.
Dein Stress bei der Geburt war auch mein Stress.
Er hat auch mich abgehärtet, lebensfähig gemacht,
meine Widerstandskräfte erhöht
und meinen Charakter geformt.
Mit jeder Idee, die geboren werden will,
mit jeder neuen Überwindung
und mit jeder Geburt von etwas unbekanntem Neuem,
erlebe ich Deinen Schmerz,
aber auch Deine Genugtuung,
etwas ans Licht der Welt zu bringen
und etwas erfolgreich zu Ende gebracht zu haben.
Ich erlebe Deinen Stolz und Deine Freude
und freue mich
über mein wachsendes Selbstvertrauen
und meinen zunehmenden Mut.
Meine Hochachtung vor Dir und Deiner Fürsorge
wächst zu tiefer Verbundenheit, Dankbarkeit und Liebe.
Du hast es Dir nicht leicht gemacht,
bist nicht den Weg der „leichten Geburt“,
den Kaiserschnittweg, gegangen
und hast dadurch meine Lebenschancen langfristig erhöht.
Du hast mir gezeigt,
dass es für alles einen natürlichen Weg
und einen richtigen Zeitpunkt gibt,
der zu finden ist,
den es abzuwarten gilt.
Und Du hast mir gezeigt,
dass jede Geburt, besonders eine schwere,
etwas mit festhalten und loslassen,
mit behalten und freigeben,
mit Angst und Vertrauen zu tun hat.
Außerdem hast Du mir gezeigt,
dass man das, was man erschaffen hat und liebt,
auch wieder loslassen muss;
freilassen muss zur Bewährung;
und dass man darauf bauen darf,
dass es eines Tages freiwillig,
voller Erkenntnis und Dankbarkeit,
zurückkommen wird.
Das, was mir wichtig ist,
kann und darf ich nicht so nebenbei tun,
vielmehr bedarf es meiner ganzen Hingabe
und meines ganzen Einsatzes,
damit es lebensfähig wird
und irgendwann einmal
der Welt und den Menschen
vielfach weitergegeben wird.
