Nachtragende Vorwürfe          (1.Kor 13,5)

 

Liebe verletzt nicht den Anstand und sucht nicht den eigenen Vorteil, sie lässt sich nicht reizen

und ist nicht nachtragend. (1.Kor 13,5, HfA)

 

Hallo Du,

da sagt mir meine Frau immer wieder aus heiterem Himmel

mit fester Überzeugung und heftiger, überzeugter und vorwurfsvoller Stimme:

„Damals hast du mich wirklich sehr schwer verletzt!“

 

Meine Reaktion ist:

  1. Huch, was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?
  2. Wie kommt sie jetzt darauf?
  3. Was wirft sie mir jetzt schon wieder vor?
  4. Habe ich überhaupt etwas falsch gemacht?
  5. Wie ist es überhaupt zu dieser Situation gekommen?
  6. Waren wir nicht beide beteiligt?
  7. Was hat sich da nur festgesetzt?
    Was schwelt da vergiftend im Untergrund und flackert immer wieder auf?
    Wie soll man sich da offen begegnen?

 

Kann den Vorwurf und Liebe gleichzeitig aus einem Menschen kommen?

 

Das ist ganz schön anstrengend.

Immer wieder der Blick zurück in die vergessene, abgeschlossene Vergangenheit.

Immer wieder neue Klärungs- und Erklärungsversuche.

Immer wieder nutzlose Diskussionen,

   die Vergangenes in die Gegenwart ziehen,

   die alte Wunden aufreißen und nicht heilen lassen,

   die immer wieder betonen: „Du bist nicht O.K.!

   Du warst es damals nicht und bist es für mich heute immer noch nicht.

Ich habe etwas gegen dich (im Kopf)!“

 

Was soll das bringen?

Sich wiederholende Erklärungen sind leer und schal.

Rechtfertigungen sind überflüssig.

Nachträgliche Veränderungen sind unmöglich. Vorbei ist vorbei.

 

Wenn ich damals einen Fehler begangen haben sollte,

   dann stehe ich dazu,

   dann wird er zu etwas gut gewesen sein,

   dann sollten beide etwas daraus lernen,

   aber – ich kann ihn nicht mehr ändern.

Wenn ich aber keinen Fehler begangen habe,

   sondern der andere nur glaubt, ich hätte einen begangen,

   dann sind das fruchtlose, ermüdende Diskussionen,

   die nur Unverständnis hervorrufen und zu neuen Verletzungen führen.

 

Der Fehler dabei liegt jedoch darin,

   das jeder davon ausgeht, sich richtig verhalten zu haben

   und dass logischerweise der andere etwas falsch gemacht hat.

Der Fehler liegt auch darin, zu glauben,

   etwas aufarbeiten zu müssen,

   etwas nachträglich klären zu können, was sich nicht mehr klären lässt,

     weil die Erinnerung daran verblasst

     und weil die Situation und das eigene Verhalten
     zur Selbstbewältigung und zur Selbstrechtfertigung

     längst positiv zurechtgerückt und beschönigt wurde.

 

Auseinandersetzungen geschehen meist dann,

   wenn man zu nahe beieinander war,

   wenn man dem anderen zu sehr auf die Pelle gerückt ist,

   wenn man ihn zu sehr bedrängt hat,

   wenn man ihm zu nahe gekommen ist.

Sie dienen dazu,

   Abstand zu gewinnen,

   durchatmen zu können,

   sich zu besinnen,

   mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen,

   evtl. Fehlverhalten zu entdecken und zu korrigieren

   und sein eigenes Gleichgewicht wieder zu finden,

     damit man wieder miteinander reden und leben kann.

 

Es geht dabei nicht darum, wer Recht hat oder hatte.

Jeder ist aus seiner Sicht im Recht.

Es geht dabei auch nicht darum,

   dem anderen Vorhaltungen zu machen,

    denn der ist ja eine eigene Person

     und er kann und darf tun, was er für richtig und angemessen hält,

         ob es mir nun gefällt oder nicht.

Es gibt kein Anrecht auf Wohlverhalten.

Es gibt nur eine freiwillige Einsicht für sich selbst.

Es gibt nur freiwillige Hin- und Zuwendung zum anderen.

 

Auseinandersetzungen dienen dazu, den eigenen Standort zu finden

   und sich neu zu definieren und auszurichten:

Entweder, ich kann das Geschehene als notwendige Abgrenzung akzeptieren,

   oder ich kann es nicht.

Wenn ich es akzeptieren kann, vielleicht aus Liebe zum Nächsten,

   dann muss es damit erledigt, vergessen und vergeben sein.

Wenn ich es aber nicht akzeptieren kann,

   dann dürfen nicht immer wieder neue, trennende, verletzende Vorwürfe kommen,

   sondern dann muss ich konsequent sein und mich fragen,

     ob es nicht besser ist, mich von diesem Menschen zu trennen.

 

Wenn ich jemandem etwas vorwerfe,

   dann werfe ich etwas zwischen ihn und mich,

   dann werfe ich etwas vor ihn, aber auch vor mich.

Ich lade ihm (m)eine Last auf,

   in der Erwartung, dass er etwas zu tun hat und er sich ändern muss.

Das ist ein moralischer Zwang. Das ist nicht liebevoll.

   Das ist vergleichende, auch sich selbst verletzende, Sünde.

Vergleichend deshalb, weil ich den anderen an mir

   und meinen eigenen (nicht maßgeblichen) Überzeugungen und Erwartungen messe.

 

Mit jedem neuen Vorwurf erhebe ich mich zum Richter,

   begebe ich mich in eine sehr zweifelhafte Rechtsposition,

   und verurteile den anderen zu nicht wieder gut zu machender Verdammnis.

Ich sage ihm (immer wieder) deutlich:

   Du bist für mich nicht O.K. – Ich lehne dich ab.

   Ich räche mich an dir und lasse dich nicht zur Ruhe kommen.

   Ich will meine Rechtfertigung und dein Schuldeingeständnis.

Ich beweise dir meine Machtposition und dass ich im Recht bin.

 

Nun, daraus kann ich nur eifernde Schwäche erkennen.

Was ist mit einem solchen Menschen?

Warum spielt er sich mir gegenüber so auf? Was will er von mir?

Warum lässt er mich nicht in Ruhe?

Woher kommt das? Wohin führt das?

Was denkt er sich dabei, so mit mir umzugehen?

Was hält er von sich selbst?

Weshalb kann er nicht vergessen? Weshalb nicht vergeben?

Weshalb nicht Vergangenes loslassen und innerlich zur Ruhe kommen?

 

Hat das vielleicht etwas mit der eigenen Familie zu tun,

   mit den vier dicht aufeinander folgenden Mädchen,

   die gegeneinander um die Liebe und Zuneigung der Eltern gerangelt haben,

   die sich gegenseitig klein zu machen versuchten, um selbst groß dazustehen?

Ist es altes, kleinliches Verhalten, kultiviert zur Selbstbestätigung?

Wenn ich es so richtig bedenke,

   dann machen sich die Schwestern tatsächlich auch heute noch gegenseitig Vorwürfe

   und sogar auch der Mutter.

   „Wegen dir hatte ich eine schwere Kindheit

   und musste später sogar in psychologische Behandlung gehen.

   Das schmerzt mich immer noch!“

 

Vater, deine Wege sind für uns unverständlich,

   aber – auch wenn ich leiden muss – bin ich mir Gewiss:

Du möchtest Licht in diese verdeckten und verdrehten

Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen bringen,

   damit sie nicht in der verborgenen Dunkelheit schlimmer werden,

   sondern damit sie aufgedeckt und offenbar werden, damit sie heilen können.

 

Im Grunde geht es gar nicht um die vordergründigen Verletztheitsgefühle,

   deren Intensität wir ja selbst steuern können,

   sondern es geht viel mehr und immer wieder um unsere tiefe Sehnsucht
   nach Liebe und Anerkennung und um den Sinn unseres Lebens und Daseins.

 

Im Grunde ist es auch eine Frage danach,

   was ich unter Liebe verstehe und wie ich damit umgehe.

Liebe ich den anderen so sehr,

   dass ich ihm vergeben kann und möchte,

   – was auch immer er mir getan haben sollte -,

   oder liebe ich ihn nicht so sehr, um ihm vergeben zu können.

 

Im Grunde ist es auch eine Frage der Liebe zu mir selbst.

Wer nicht vergeben will, stellt sich selbst ein Bein.

Ihm sind sein Stolz, seine Betroffenheit und seine Opferrolle

   wichtiger als die Liebe.

Wenn er nicht aufgeben und vergeben will,

   dann möchte er lieber unfrei und belastet sein;

   dann möchte er sich lieber in einem vermeidlichen Vorteil wähnen,

     und in anderen ein schlechtes Gewissen erzeugen;

dann möchte er lieber der Geschädigte sein

   und mit Vorwürfen ewig auf sein moralisches, selbstgerechtes Recht pochen.

Diese Einstellung und Masche mag unter selbstkritischen Mädchen und Frauen

   vielleicht kurzfristig funktionieren,

   aber langfristig ist sie vergiftend und Beziehung zerstörend.

Sie geht fälschlicherweise davon aus,

   dass es einen Gewinner geben muss, einen der im Recht ist (natürlich ICH);

   aber wo es einen Gewinner gibt, muss es auch Verlierer geben,

   und wo jemand im Recht sein will, erzeugt er automatisch unrecht, alles ist relativ.

   Recht hat man nicht, sondern man bekommt es freiwillig zugestanden.

Sie erzeugt nachtragenden Hass und zerstörende Zwietracht.

Sie ist in Wirklichkeit ein selbstlähmender Nachteil,

   der in den anderen Vorsicht und Rückzug bewirkt

   und dadurch das eigene Gefühl des Abgelehnt Werdens verstärkt.

 

Im Grunde ist es auch eine Frage meiner Einstellung zu Gott.

Jesus, du sagst uns:

„Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt,

   so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.“ (Mt 6, 14)

Und du machst es uns im nächsten Satz noch klarer:

„Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt,

   so wird euch euer Vater im Himmel auch nicht vergeben.“ (Mt 6,15)

Das heißt, er wird uns in der eigenen Schuld und Schande so lange schmoren lassen,

   bis wir einsehen, endlich vergeben und aus der Verirrung zu ihm umkehren.

Es bedeutet, dass er von uns liebevolles Verhalten verlangt

   Und uns erst wieder bei der hand nimmt, wenn wir bereit sind, ihm zu gehorchen.

 

Im Grunde ist es auch eine Frage meines Verständnisses von Liebe.

Ist Liebe ein Gut, das man einfordern und einklagen kann,

   oder ist sie eine eigene Einstellung.

Erwarte ich sie vom anderen,

   oder bin ich selbst bereit, mich (trotzdem) liebevoll abwartend,

   gütig, selbstlos, ausgleichend, nicht nachtragend und vergebend zu verhalten?

 

„Die Liebe gibt nie jemanden auf, in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere;

Alles erträgt sie mir großer Geduld.“ (1.Kor 13,7)

 

Himmlischer Vater, bitte, habe erbarmen.

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