Der Vogel ‚Ich‘
Hallo Du,
es war einmal ein kleiner Vogel, der war jung und schön, bunt, unkompliziert und frei. Er hatte eine große Seele, Flügel zu fliegen, einen Schnabel zum Zwitschern und neugierige Augen, um die Welt zu erkunden.
Am liebsten flatterte er mit seinen Flügeln durch die Gegend und rief dabei ohne Unterlass: “Ich bin! – Ich bin! – Ich bin!“.
Meistens betonte er das „Ich“ nur ganz kurz und das „ binnn“ lang. „Ich binnn!“
Damit wollte er sagen: Es geht mir gut, ich fühle mich wohl, ich bin glücklich, zufrieden und lebensfroh. Und alle schauten zu ihm bewundernd auf.
Manchmal aber betonte er das „Ich“ und machte danach eine kurze Pause.
„Ich– bin!“ Damit sagte er: Schaut her, hier bin ich, seht mich, ich möchte sein, ich möchte mit Dir zusammensein. Auch hier schauten einige auf. Aber warum schauten sie wieder weg? Warum kam keiner zu ihm?
Immer wenn er zu viel geflattert und gerufen hatte, wurde er müde und er brauchte einen Baum, auf dem er sich ausruhen konnte, in dem er sich bergen konnte. Und bald fand er heraus, wie unterschiedlich Bäume sind. Am Liebsten saß und schlief er auf einem großen und starken, kraftvollen und ursprünglichen Baum, dessen Äste im Inneren übersichtlich und kräftig waren und die im Wind nicht zu sehr schwankten. Wichtig war ihm auch, dass die Blätter nicht zu dicht zusammen waren. Er wollte den Kontakt nach außen nicht verlieren;
immer nach außen sehen können; sehen, was in der Welt vor sich ging und auch jederzeit wieder wegfliegen können. Aber er wollte in seiner Müdigkeit und Schwäche auch nicht gesehen werden. In diesen Momenten wollte er sicher, geschützt und geborgen sein.
Und so fand er seinen Lieblingsbaum. Es war der Beste, den es in seiner Gegend gab; das Beste, was da war. Und darin baute er sein Nest und schenkte seine Aufmerksamkeit und Liebe ganz seiner Familie.
Doch er bemerkte, dass sich der Baum im Laufe der Jahre veränderte. Er wurde nicht nur größer und größer, sondern seine Blätter wurden auch dichter und dichter, seine Äste immer unbeweglicher und kein Lichtstrahl fand den Weg mehr hinein. Seine Buntheit und Schönheit war nicht mehr zu erkennen. Und fast noch schlimmer, man kam immer schlechter nach draußen. Das schützende Blätterdach wurde allmählich zum einengenden Käfig. Sein Rufen: „Ich bin, – ich bin,“ – wurde nicht nur immer leiser, es wurde auch noch von den Blättern verschluckt. Nichts drang mehr nach außen. Er war gefangen, eingefangen, befangen, fast tot. Seine Hoffnung und sein Lebensmut schwanden immer mehr und mit ihnen sein Lebenssinn.
Doch eines Tages, völlig unerwartet, kam ein Lichtstrahl durch die Blätterwand und berührte ihn, denn eine Windböe hatte die Äste und Blätter für einen kurzen Moment zur Seite gedrückt. Und dieses kurze, warme Licht weckte in ihm wieder die Hoffnung auf Leben. Es musste doch mehr geben als Enge und Schatten, als Sicherheit und Versorgung, als Gefangenschaft, Stillstand und Niedergang. Und es reifte in ihm ein Entschluss. Der Beschluss, auszubrechen; allen Mut zusammenzunehmen und davonzufliegen in die Freiheit; in die Freiheit, wieder ‚zu sein’ und ‚zu leben’, mit anderen zu flattern und zu zwitschern, aufzufliegen zum „Ich binnnn“. –
Und beim nächsten Sturm gelang es, trotz Blitz und Donner, trotz Sturm, Angst und Zweifel. Der Ruf des Lebens war stärker, viel stärker! Der Überlebenswille war stärker, viel stärker! Die unerledigten Aufgaben Gottes riefen immerzu: „Nutze Deine Gaben! Ehre dadurch mich! Liebe mit ihnen Deine Mitmenschen und auch Dich selbst! – Ich habe nichts davon, wenn Du Dich aus Pflichtgefühl zu etwas zwingst, wenn Du bedrückt bist. Ich möchte, dass Du Dein Tun gern tust, dass Du Freude daran hast, dass andere Freude daran haben. Ich möchte, dass ICH, Deine Schönheit in Dir, aus Dir herausstrahlen kann und dass Du dadurch zum Licht für andere wirst.“
Obwohl in Freiheit, endlich in Freiheit, ging es dem Vogel nicht gut. Er fühlte sich klein, allein und verloren; ungeschützt und auf sich selbst gestellt; sinnlos und ohne Orientierung. Doch die Freiheit stärkt die Flügel. Sie macht selbständig, unabhängig und selbstbewusst.
Das „Was ist mit mir passiert?“ und das „Was habe ich getan?“ wurde bald abgelöst von neuen Fragen: „Wer bin ich?“ – „Wie bin ich?“ – „Was kann ich?“ – „Was soll ich?“ – „Was hat Gott mir gegeben, fürs Leben?“.
Und jetzt beginnt der Weg durchs Nadelöhr, die Suche nach den Antworten, der Weg in sich selbst, zum eigenen Ursprung, zur Basis des eigenen Lebens.
Und der Vogel suchte die Stille. Er durchdrang sein Äußeres, seine verhärtete Schale aus Maske, Fassade, Kleidung, Aussehen, Flair, Stimme und Haltung. Und darunter fand er eine neue Schale aus Anpassung und Verhalten, kultiviertem Sein. Er fand seine Vergangenheit, seine sinnlosen und sinnvollen Werte, seine zu eng gewordene Persönlichkeit und schließlich auch seinen noch weitgehend ungeschliffenen Charakter, den Schliff des Rohdiamanten in sich selbst.
Und das Licht wurde heller, der Horizont weiter und das Herz wärmer. Der Vogel fühlte sich nicht mehr so einsam, denn er hatte jemanden gefunden, der ständig bei ihm war: Er hatte einen Teil von sich selbst gefunden und das gab ihm neue Kraft und neuen Mut auf seinem langen, beschwerlichen Weg der Selbsterkenntnis und Selbstannahme.
Nun wagte er sich weiter in den Bereich seiner Gefühle, seiner Hoffnungen und Ängste, die sein Wesen bestimmten, in den Bereich, der ihn heiß oder kalt machte, der ihn agieren und reagieren ließ.
Und er wurde geläutert in der Glut der Erkenntnis um sich selbst, durch den Geist in der Nähe Gottes, der glühenden Sonne in unserem Herzen.
Und hinter den Gefühlen lag sein Wesen vor ihm: klar, rein, ursprünglich, natürlich. Er sah das Bild Gottes von sich. Er sah seine eigene Liebe, sein Fundament und seine Basis, auf der er neu und felsenfest aufbauen konnte.
Und alles stimmte plötzlich. Das Puzzle war zusammengefügt.
Und es strahlte die Botschaft durch alle seine Hüllen aus ihm heraus und er rief, leise und laut, immer und immer wieder: „Ich binn! – Hurra, ich binnn! –Ich binnnn wieder! – Ich bin! – Halleluja, ich binnnnnn! – Ich habe meine Quelle, meinen Ursprung, meine Liebe und mein Licht entdeckt und kann es weitergeben! – Ich lebe wieder! – Ich bin auferstanden von den Toten. Ich kann und möchte Dir meine neue Liebe zeigen und großzügig schenken, Dir die Wärme meines eigenen Herzens geben und dem Ruf meiner Seele, meiner Berufung folgen!“
Und alle schauten wieder bewundernd zu ihm auf. Sie waren gerührt und ergriffen und sie dankten Gott, der das ermöglicht hat, für seine Fügung.
