Der Ich-Faktor (Mt 22,36-39)
Niemand denkt an mich, nur ich!
Was ist mit mir? Wo bleibe ich?
Hallo Du,
es ist der Lauf der Dinge:
Als Säuglinge sind wir hilflos und auf die Hilfe anderer angewiesen.
Unser Unterbewusstsein ist programmiert auf Leben und dazu gehören
Wärme und Nähe, Essen, Schlafen, Reinlichkeit, also Wohlsein.
Das Erste, was wir tun, wenn wir zur Welt kommen ist einzuatmen und zu schreien.
Wir verkünden der Welt, dass wir sind und dass wir unseren Platz einnehmen.
Mit Schreien behaupten wir uns und da wir (zum Glück)
noch nicht denken und reden können, erscheinen wir hilfloser als wir sind.
Mit Schreien machen wir darauf aufmerksam, dass mit uns irgendetwas nicht stimmt.
Wir sind hungrig, müde oder haben die Windel voll
und immer wenn wir schreien, ist sofort jemand da, der das ändert.
Schnell lernen wir, dass Schreien und Bedürfniserfüllung eng zusammenhängen.
Wenn wir etwas wollen schreien wir, und es wird erfüllt.
Und wenn die Bedürfnisbefriedigung einmal nicht gleich geschieht,
dann schreien wir eben lauter und länger.
Je häufiger das funktioniert, desto sicherer wissen wir, was wir tun müssen,
um es zu bekommen, nämlich schreien und auf uns aufmerksam machen.
Wir vertrauen darauf: Irgendwer wird ein weiches Herz haben und sich unserer erbarmen.
Unser Wollen wird erfüllt. Wir bekommen unseren Willen.
Wir lernen, unseren Willen durchzusetzen. Der Ich-Faktor ist entstanden.
Wir sind der süße, aber auch lautstarke Familienmittelpunkt und wollen es bleiben.
Wir wurden (durch das Verhalten der Eltern) so konditioniert und programmiert
und ohne Umlernen würden wir ein Leben lang so bleiben.
Solange wir wirklich hilflos sind,
ist die elementare Bedürfniserfüllung überlebensnotwendig und völlig in Ordnung.
Die Natur hat das so eingerichtet.
Sie hat uns Eltern mir einem weichen Herz und einer lieben Seele gegeben, meistens.
Doch schon bald werden wir größer und unser Verhalten ist nicht mehr altersangemessen.
Wir brauchen Widerstand. Immer häufiger hören wir ein ‚Nein!’,
doch wir wollen die bisherigen Bequemlichkeiten weiterhin genießen.
Wir kämpfen um Willenserfüllung, um Aufmerksamkeit und Zuwendung, um Anerkennung und Unterstützung, darum, unseren Willen weiterhin durchzusetzen und zu bekommen.
Wir erproben Alternativen zum Schreien, die wir bei anderen gesehen haben.
Wir werden eigenwillig, launig, bockig, aggressiv und trickreich
und wir testen unsere Mitmenschen, inwieweit sie dem nicht widerstehen können.
Diese Masche versuchen wir immer wieder, meist unbewusst, oft aber auch bewusst.
Wir bewerten die Menschen danach,
ob sie auf uns eingehen, uns zu Diensten sind und ob sie gut für uns sind,
das heißt letztlich, ob wir sie manipulieren können und ob sie tun, was wir wollen.
Wir werden zu selbstbezogenen Egoisten .
Und fast niemand mehr weiß, dass das für Kinder (nur) ein lebensnotwendiges Spiel ist.
Sie brauchen diese Widerstände, um ihre Grenzen zu finden
und um zum rechten Maß zurückgeführt zu werden,
aber auch dafür, um in Notsituationen bestehen zu können.
Ihr Wille soll dabei nicht gebrochen, sondern gemeinschaftsfähig gemacht werden.
Wir alle müssen lernen, uns in einigen Situationen zurückzunehmen und in anderen zu behaupten.
Wir müssen lernen, die Situationen zu unterscheiden
und unseren Blick auch auf andere Menschen zu richten.
Wir müssen lernen, dass jeder Mensch ein Daseinsrecht hat
und dass unser Wille und Freiraum dort aufhört, wo der des anderen beginnt.
Wir müssen lernen, dass wir Gemeinschaftswesen sind
und dass andere genauso auf unsere Unterstützung angewiesen sind wie wir auf ihre.
Und irgendwann dürfen wir erkennen,
dass wir zwar einzigartig sind und es auch bleiben dürfen,
dass aber diese Einzigartigkeit zur Ergänzung und Freude der der Anderen dient
und dass die daraus erwachsende, aufmerksame, rücksichts- und liebevolle Gemeinschaft
Grundlage unserer Lebensbestimmung ist.
Liebe gibt man und bekommt man, man kann sie sich nicht nehmen.
Um zu lieben, benötige ich ein Gegenüber und ohne einen anderen, werde ich nicht geliebt.
Wenn wir diesen Widerstand nicht bekommen
und wir uns spielerisch daran nicht erproben können, dann glauben wir,
wir dürften und könnten uns alles erlauben,
wir wären unabhängige Menschen mit Vorrechten zu Lasten anderer.
Manche Eltern scheuen den mühsamen Kampf um die Gruppenfähigkeit ihrer Kinder.
Aus falsch verstandener Liebe oder aus Bequemlichkeit
geben sie dem Willen ihrer Kinder schnell nach und verhindern damit,
dass sie im Leben erfolgreich werden.
Diese Eltern machen sich langfristig zu Sklaven ihrer Kinder, die sie deswegen doch verachten.
Manche Eltern aber wollen gerade, dass ihre Kinder willensstark werden
und sich im Lebenskampf erfolgreich behaupten.
Dabei verkennen sie, dass ihre Kinder sich durch ihr Verhalten selbst isolieren
und dass sie, durch dieses elterliche Zutun,
langfristig zu unzufriedenen und verbitterten Außenseitern werden.
„Wenn ihr also leiden müsst, dann will euch Gott erziehen.
Es zeigt, dass ihr wirklich seine Kinder seid.
Welcher Sohn wird von seinem Vater (aus weitsichtiger Liebe)
nicht streng erzogen und auch einmal bestraft?“ (Hebr 12,7)
Den Ich-Faktor überwinden wir nur, indem wir uns anderen zuwenden
und sie (zunächst) wichtiger nehmen als uns selbst.
Dass das Leben aber nur gelingt,
wenn wir Beziehung haben und wenn darin das ‚Ich’ und das ‚Wir’ ausgewogen sind,
das erfahren wir (leider) nur aus der Bibel, aus dem was Gott uns für unser Leben sagt.
Er macht es uns sogar leicht.
Er bietet uns an, das menschliche Gerangel hinter uns zu lassen
und uns (zunächst) ganz ihm zuzuwenden, damit wir auf die richtige Schiene kommen.
Er gibt uns Jesus zum Vorbild, damit wir durch ihn lernen.
„Jesus wird gefragt: ‚Herr, welches ist das wichtigste Gebot im Gesetz Gottes?’
Jesus antwortete: ,Liebe Gott, den Herrn, von ganzem Herzen,
aus ganzer Seele und mit deinem ganzen Verstand!
Das ist das erste und wichtigste Gebot.
Ebenso wichtig ist aber das zweite:
Liebe deinen Mitmenschen, so wie du dich selber liebst!’“ (Mt 22,36-39)
