Den Willen brechen
Hallo Du,
gestern bin ich richtig erschrocken,
als ich hörte, dass es eine gängige Erziehungsmethode sei,
Kindern, besonders Jungen, den Willen zu brechen,
damit sie gefügig werden,
damit sie sich unterwerfen,
damit sie sozialisiert werden können,
damit ihre angeborene Schlechtheit ausgetrieben werden kann,
damit sie tun, was andere von ihnen wollen.
Dabei werde ich an das Einreiten von Pferden erinnert,
die oft mit übertriebener Strenge oder Gewalt
solange gezwungen werden
den Reiter und seinen Willen zu akzeptieren,
bis sie aufgeben,
bis sie ihre Wildheit ablegen,
bis sie gebrochen sind,
natürlich nur zu ihrem Besten.
Das finde ich lieblos und grausam,
aber besonders erschreckt hat mich dabei,
dass die Menschen, die das erzählt haben,
diese Methode für richtig halten,
dass sie davon überzeugt sind,
es gäbe keinen anderen Weg,
dass sie das, was sie an sich selbst erfahren haben,
unreflektiert auf ihre Kinder übertragen
und dadurch unbewusst eine neue Generation von gebrochenen,
gefügig gemachten und stromlinienförmigen Menschen erschaffen
und in die raue Wirklichkeit des Lebens schicken,
die ihr Selbst und ihre ursprüngliche Kraft fürchten,
und sich ihrerseits wieder genauso verhalten, wie ihre Eltern.
Diese Wildheit,
diese ursprüngliche, animalische Kraft in uns,
ist unser Motor,
ist unser Antrieb, uns zu entfalten und zu entwickeln,
ist unser Antrieb, uns mit unserer Umwelt auseinander zusetzten
ist unser Antrieb, uns selbst zu suchen und in Frage zu stellen,
ist unser Antrieb, auf andere zu- und einzugehen und Gemeinschaft zu bilden,
ist unser Antrieb, Kultur zu entwickeln und Wege zu finden,
unsere Liebe und Zärtlichkeit zu geben,
ist unser Antrieb, unsere Gene weiterzugeben und unsere Art zu erhalten.
Es darf nichts gebrochen werden an einer Kreatur,
es dürfen keine kraft- und willenlosen Wesen erzeugt werden,
denn wir und unsere Gesellschaft
leben von und aus dieser ursprünglichen Kraft und Stärke,
von der vehementen Dynamik und der unaufhörlichen Energie,
von dem Willen zu leben und zu überleben.
Ein viel besserer Weg ist,
diese Kräfte zu erhalten,
diese Kräfte zu transformieren, zu kanalisieren,
sie durch Liebe und Verständnis,
durch liebevollen und kritischen Umgang mit ihnen,
zu Liebe, Zärtlichkeit, Mitgefühl und vieles mehr zu verwandeln
Ein viel besserer Weg ist,
die eigenen schlimmen Erfahrungen zu überwinden,
die eigenen Wurzeln wiederzufinden,
die eigene Ursprünglichkeit zu entdecken,
aus ihr Kraft zu schöpfen,
aus ihrer Dynamik und Leidenschaft zu leben,
ihr natürliches Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zu nutzen,
aus sich heraus zu leben,
natürlich zu sein.
Umso wertvoller ist dann
die freiwillige, teilweise Aufgabe von Freiheit
für eine intensive Beziehung und Bindung,
die durchaus als Liebesbeweis gesehen werden kann.
Umso wertvoller ist dann
die freiwillige Anerkennung des göttlichen Willens,
seiner, über unseren Horizont hinausgehenden Weisheit
für seine Schöpfung und für jeden einzelnen von uns.
Umso wertvoller ist dann
die Anerkennung der eigenen Schwäche und Ohnmacht
und das Zulassen von fremder und göttlicher Hilfe.
