Dem Leben entrückt

 

„Wer sich an sein Leben klammert, wird es verlieren.

Wer sein Leben aber für Gott einsetzt, wird es für immer gewinnen.“ (Lk 17,33)

 

Hallo Du,

wir Menschen haben von Natur aus ein egozentrisches Weltbild,

   d.h. wir schauen aus unserem Körper heraus, beobachten unsere Umgebung

   und die Geschehnisse, beziehen sie auf uns und messen sie an uns und uns an ihnen.

Wir machen uns automatisch zum Maßstab der Dinge, weil wir keinen anderen haben
   und gehen davon aus, dass wir O.K. sind und dass somit unsere Bewertungen
für uns und andere richtig sind.

Wir gehen also immer von uns aus und was wir denken, sagen und tun
   ist für uns absolut richtig, es muss einfach richtig sein,

   schließlich haben es uns unsere Eltern so vorgelebt und alle anderen machen es auch so!

 

Objektiv gesehen ist das verrückt,
   aber subjektiv gesehen ist das – ohne weiteres Wissen-
   zunächst der einzige Weg, um überhaupt einen Maßstab zu haben.

Und weil wir unbewusst mit zunehmendem Verstand
   immer „verständiger“ und „selbstbezogener“ werden, verfestigt sich dieser Selbstmaßstab

   und wir geraten in eine selbstherrliche oder selbstkritische Denkecke,

   aus der wir kaum noch herauskommen.

Wir sind gefangen im eigenen Maßstab, im eigenen Ich,

   in den eigenen Einstellungen, Vorstellungen und Erwartungen, im eigenen Teilwissen.

Wie gut wäre es, wenn ich über meinen eigenen Zaun schauen könnte,

   um meinen Maßstab zu relativieren, um ihn auf ein gesundes Maß zu bringen.

 

Wenn wir beispielsweise perfektionistisch veranlagt sind,

   dann disziplinieren wir uns dafür unbewusst selbst, messen unsere Mitmenschen daran

   und quälen sie mit unseren Erwartungen, denn sie sind es eben nicht.

Weil wir unser eigener Maßstab sind und weil andere Dinge nicht so machen,

   wie wir es für richtig halten, müssen wir eben sehr viel selbst tun,

   um es uns recht zu machen. Oft übertreiben wir den Selbst-Bezug.

Wir investieren sehr viel Kraft in die „richtige“ Lösung oder Ausführung

   und verfestigen damit unsere Einstellung um so mehr.

Wir lösen nicht unser Problem, sondern wir werden zum Problem für andere.

Nur wer sein Problem loslässt, sich von ihm entrückt und entfernt,

   findet die innere Ruhe wieder und kommt ins liebevolle Fließen.

 

Stehst auch du wie eine Eiche mitten in deinem Leben und misst die Umwelt an dir,

   oder blickst du manchmal über deinen eigenen, begrenzten Horizont hinaus?

 

Alles ist alleine eine Frage des Horizonts bzw. des Blickwinkels, also der Perspektive:

Bin ich Betroffener, dann betrachte alles im engen Bezug auf mich,

   also auf mein kleines, empfindsames und selbstbezogenes ICH,

oder betrachte ich mich großzügig von außen wie einen interessanten Fremden,

   den ich kennen- und verstehen lernen möchte?

 

Um mir einen Überblick zu verschaffen,

   muss ich mich auf einen höheren Standort begeben,

   mir also das Problem von einer höheren Warte aus ansehen,

   d.h. mir dadurch vermehrte Informationen und Kenntnisse der Zusammenhänge zulegen.

Oder anders ausgedrückt, ich muss mich über die Dinge des Alltags erheben, sie mit Abstand betrachten,

sie aus Perspektive eines Vogels in möglichst großer Flughöhe sehen.

Ich muss über den Problemen und Geschehnissen fliegen,

   um mich aus den Zusammenhängen heraus zu orientieren,

   um durch den so gewonnenen Überblick zu anderen Bewertungen zu kommen.

Das geschieht durch das Sehen mit dem inneren Auge, mit dem Herzen.

Dabei löse ich mich vom körperlichen, sinnesbezogenen Sehen, gebe die Binnensicht auf

     und betrachte mich von außen.

 

„Was tue ich da? Warum mache ich das? Wozu ist das überhaupt gut?“

 

Ich betrachte mich, also mein Wesen, meine Situation, meine Probleme und mein Verhalten

   im so genannten Metablick von oben und außen, aus der Adlerperspektive,

   quasi mit den Augen einer anderen Person

   oder vielleicht auch mit den Augen Gottes und mit seinem Maßstab.

 

Hinter den Augen und der Sichtweise der anderen liegt ein anderes Wissen,

   liegen andere Ansichten, Erfahrungen, Wertvorstellungen und Einstellungen.

Auch die anderen leben und handeln nach ihrem Maßstab.

Sie tun es zwar anders als ich, aber vielleicht doch nicht verkehrt,

   denn sie kommen ja damit klar.

Sie sehen Dinge eben anders

   und tun sie vielleicht sogar mit weniger Aufwand.

 

Das bedeutet:

Nur wenn ich mich aus meinen Lebenszwängen herauslöse und mich selbst betrachte,

   kann ich vertiefte Einblicke und Erkenntnisse über mich erlangen;

nur wenn ich mir für diese Betrachtung Zeit und Ruhe nehme,

   wird die Besinnung zur wegweisenden und sinngebenden Erkenntnis.

Durch die veränderte Perspektive und die darin erhaltenen zusätzlichen Informationen

   verschieben sich meine eigenen Ansichten, Erwartungen und Lebenswerte

und damit auch ihre Bedeutung für mich und mein Leben.

Ich bekomme einen anderen Maßstab. Mein ICH relativiert sich.

 

Und je höher meine Flughöhe wird, desto größer wird mein Überblick.

Ich nehme weniger verwirrende und ablenkende Details wahr und erkenne dafür viel besser

   die sich wiederholenden Zusammenhänge und Grundmuster im Ablauf des Geschehens

   und in den Grundstrukturen von Menschen – und damit auch von mir.

Über die Außensicht und die Betrachtung anderer lerne ich mich und mein Wesen kennen,

   also meine Begabungen, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, Schwächen und Ängste,

   meine Vielfalt und meine Mängel, meine Einfalt und meinen unbewussten Stolz und Hochmut.

Alles darf sein, denn es ist ja die Grundlage für mein persönliches Wachstum,

   für meine ganz persönliche Weiterentwicklung, für meine Lebensaufgabe.

 

Wow, ich kann gedanklich fliegen!

Ich kann mich innerlich bewegen und dabei äußerlich ruhig sein.

Ich kann durch Perspektivenwechsel innerlich wachsen und es wird sogar äußerlich sichtbar.

Ich kann meinen Verstand, vielleicht auch meinen Geist, von meinem Körper trennen!

Ich kann mich gedanklich bewusst aus meinem Sein herausheben.

Ich kann meine Fesseln und Bindungen gedanklich verlassen

und so frei und ungestraft neue Wege ausprobieren und prüfen.

Ich kann mich über das belastende Leben heben und mich in einer neuen Rolle sehen.

Wow, ich kann im Geiste spazieren gehen!!

 

Ich bin also nicht nur ein Körperwesen, gebunden an meinen Körper,

   sondern auch ein Geistwesen, frei und ungebunden in der geistigen Bewegung.

In der abgehobenen, selbstvergessenen Betrachtung

   verlasse ich meinen Körper und gehe im Geist auf.

Von einem guten und spannenden Buch oder Film kenne ich das,

   aber dass ich selbst darauf Einfluss habe ist genial.

Ich werde nicht nur der äußeren Wirklichkeit entrückt,

   sondern ich kann mich ihr auch durch Konzentration und Hingabe entrücken.

Ich kann meine Denk- und Gefühlsebene verlassen

   und darüber gedanken-los eins werden mit der Stimmigkeit des Seins.

Ich kann mich mit dem Universum, ja mit Gott, verbinden

   und mich darin losgelöst verändern lassen.

Ich kann sehen, ohne zu sehen, hören ohne zu hören und ohne Verstand verstehen.

Ich weiß ohne zu wissen und erkenne ohne Kenntnis. Das ist wahre Erkenntnis.

 

Das gelingt aber nur dem. der sich vollkommen loslösen kann;

   dem, der es lernt immer mehr loszulassen und sich (sein Ich) zu vergessen.

Nur wer vom Welt- und Eigenwesen gelöst ist, kann entrückt werden,

also herausgenommen werden aus den Zwängen des Lebens

   und den verqueren Gedanken und Gefühlen des Menschseins.

 

Im Korintherbrief (2. Kor 12:2) lesen wir:

„Ich kenne einen Christen, der vor vierzehn Jahren in den dritten Himmel entrückt wurde.

Gott allein weiß, ob dieser Mensch leibhaftig oder mit seinem Geist dort war.“

 

Diese Entrückung ist so erholsam, intensiv und beeindruckend,

   dass sie bleibende Spuren hinterlässt.

Wir erleben sie als wohltuende, andere Realität und als erhellende Klar- und Weitsicht.

Sie ist Abstand vom Verstand

   und damit Gedankenlosigkeit, Geborgenheit und innerer Frieden.

In ihr sind Freude, Frieden und Geduld, Freundlichkeit, Güte und Treue, Besonnenheit

und Selbstbeherrschung und noch manches andere zu Liebe und Verständnis verdichtet.

 

Und wer aus dieser weltlichen Entrückung zurückkehrt

   in seinen Körper und in sein irdisches Leben,

   der sieht alles von einer überirdischen Warte aus, mit veränderten Bewertungen.

Er weiß, dass nichts wirklich wichtig ist, außer einem festen Fundament,

   nämlich der dauerhaften Verbindung mit Gott

   und die ist gegründet auf Jesus Christus, auf seinem Vorbild und Maßstab;

   auf dem, was er uns von Gott gesagt und gezeigt hat.

   Nur in der Gewissheit dieses Wissens können wir mit ihm im Geist verschmelzen.

   Das gerade ist der feste Glaube an und das blinde Vertrauen in Gott,

     zu dem wir in der Bibel immer wieder aufgefordert werden.

 

Ich brauche wirklich nichts anderes als Gott, denn er sorgt für alles, was ich brauche.

Verbunden mit ihm habe ich alles, was wichtig ist. Aus dieser Beziehung

   wächst die Gemeinschaft mit anderen, die für das Restliche sorgt.

Wer ihn hat, der hat das Leben; ein neues vertrauensvolles und bewahrtes Leben

   mit großer Übersicht und warmherzigem, liebevollem Weitblick.

Wer ihn hat, kann seine Kräfte bündeln und auf das Wesentliche konzentrieren,

   nämlich auf das dreifache Liebesgebot Jesu:

 

“Liebe Gott, den Herrn, von ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit deinem ganzen Verstand

und liebe deinen Mitmenschen, so wie du dich selber liebst!“ (Mt 22:37)

 

Wer also seine Liebe für Gott, für seine eigene Gesundheit und für andere

hingebungsvoll im Denken, Reden, Beten und Handeln einsetzt,

   der wird in eine andere Wirklichkeit entrückt und von Gott erhört;

   der ist im Geist direkt mit Gott verbunden,

   der kümmert sich zuerst um das Reich Gottes und der Rest wird ihm dazu gegeben.

 

Gott braucht unsere Liebe, die Liebe, die er in uns alle gelegt hat,

   um durch sie an uns, und durch uns an anderen zu handeln.

Er braucht uns, unsere Offenheit, unser Vertrauen, unsere Bereitschaft

   und unseren Gehorsam, damit er „aus uns heraus“ und wir „für ihn“ wirken können.

Sein Heiliger Geist braucht uns, unseren Körper, unseren Verstand, unsere Gefühle

   und unseren Geist, um sich und seine Liebe auszudrücken und verständlich zu machen.

Und unser Geist, Verstand und Körper braucht Gott und seine Perspektive

   zur geistlichen Orientierung, damit wir einen übergeordneten Maßstab bekommen

   und die Signale unserer Sinne, und daraus abgeleitet unserer Gedanken und Gefühle,

   relativiert einschätzen.

 

Im Schauen auf Gott verändere ich meine Perspektive.

Ich werde aus meinem gefühlsgeleiteten Denken herausgehoben

   und betrachte meine Probleme und Bitten mit seinen Augen und aus seinem Wollen.

Indem ich im Gebet ein Problem beschreibe, betrachte und objektiviere ich es bereits

   und meine Bitte oder Fürbitte fällt anders aus.

Im ich-verbundenen, alten Leben haben wir die Geschehnisse aus unserer Verstrickung

   mit ihnen gesehen, im neuen, teilentrückten, vergeistlichten Leben sehen wir

   distanzierter und differenzierter und damit mehr aus der Sicht Gottes.

 

„Ihr habt doch euer früheres Leben mit allem, was dazugehörte, wie alte Kleider abgelegt.

Zieht jetzt neue Kleider (und neue Sichtweisen) an, denn ihr seid (durch eure Lebenshingabe an Jesus)

neue Menschen geworden! Lasst euch (nun) von Gott erneuern. So entsprecht ihr immer mehr dem Bild,

nach dem Gott euch geschaffen hat. (Kol 3:9 – 10)

 

„Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere Mensch

von Tag zu Tag erneuert.“ (2.Kor 4, 16)

 

Der innere Mensch wird also durch inneres Wachstum und innere Veränderung (Reifung)

   von Tag zu Tag, immer wieder und immer weiter, erneuert.

Wir werden erneuert, indem wir über uns und unseren Horizont hinauswachsen.

Wir werden erneuert,

   indem wir andere Blickrichtungen einnehmen,

   andere Maßstäbe akzeptieren und anlegen

   und neue Erkenntnisse zulassen und daraus lernen.

Lernen hält uns jung und beweglich. Lernen ist unser Jungbrunnen.

 

Wir rücken näher zu Gott,

   indem wir uns jeden Tag und in jeder Fragestellung neu an ihm orientieren,

   uns von ihm und seiner Erkenntnis leiten lassen und auf seine Zusagen bauen.

 

Ziel unserer Bewusstseinserneuerung ist das tägliche Anziehen „des Ebenbilds dessen,

   der uns geschaffen hat“.

 

So werden wir im Lebensprozess dem irdischen Leben immer weiter entrückt

   und zu dem gemacht, was Gott mit dem Menschen ursprünglich vorhatte.

 

„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“ (1.Mose 1,27)

Wir sollen ihm ähnlich werden; werden wie Jesus; zu seinen Söhnen oder Töchtern werden.

 

Wer sich also in irgendeiner Weise an sein altes Dasein klammert, wird dauerhaft krank

   und er wird das Leben insgesamt verlieren.

Wer aber sein Leben an Gott ausrichtet und es dadurch erneuern lässt;

   wer also dieses neue Leben und diese neue Sicht für Gott einsetzt,

   der wird das Leben in der Fülle des Seins für immer gewinnen.

 

 

Himmlischer Vater,

schenke mir immer wieder neue Blickrichtungen, Einblicke und Ansichten

   und auch die Erkenntnis deines Wollens und deiner Weisheit.

 

Entrücke mich immer mehr aus meinem alten, kleinkarierten Leben,

   in die geistliche Verbindung mit dir, damit ich Jesus – und damit auch dir –

   immer ähnlicher werden kann.

 

Offenbare mir das Geheimnis der Verwandlung durch dein Wort und deinen Geist

   und erweise mir die Gnade, dieses Wissen an andere weitergeben zu können.

 

Amen

Schreibe einen Kommentar