Das Spiegelbild

 

Als ich heute Morgen aufwachte, ging es mir immer noch schlecht. Ich war immer noch ziemlich unruhig und unausgeglichen. Nein, eigentlich ging es mir sogar noch schlechter. Um nicht länger darüber nachzudenken, beschloss ich aufzustehen und mich zu waschen. Normalerweise sehe ich ja nur in den Spiegel, um mich zu schminken, aber heute hoffte ich auch, im Spiegel zu erkennen, dass es mir besser geht, als ich mich fühlte.

Aber, durch das was ich da sah, wurde meine Hoffnung jäh durchbrochen und meine verdrängten, schlimmsten Befürchtungen weit übertroffen.

Total erschrocken sagte ich in den Spiegel: „Oh je, wer bist denn Du? – Du siehst ja gar nicht gut aus!“, und nachdem ich mich mehrmals gewaschen hatte, wurde das Bild, das ich sah, auch nicht besser.

 

Der Spiegel antwortete mir: „Weshalb bist Du so erstaunt? Ich bin doch Du, Dein Spiegelbild!“ – Aber ich rief entrüstet: „Das kann nicht sein! So sehe ich nicht aus! So will ich nicht aussehen! Das bin ich nicht!“

 

Ganz geduldig sagte das Spiegelbild: „Nun gut, dann fasse mich an.“

 

Das schien mir fair, hatte ich doch dabei die Chance, recht zu behalten und so griff ich nach „meinem Spiegelbild“ und stieß dabei mit der Hand an das Glas des Spiegels: „Siehst Du, ich kann Dich nicht anfassen, Du bist nicht wirklich, Du bist nicht ich.“

Aber das Spiegelbild blieb ruhig und geduldig und antwortete: „Wenn Du mich auf der Oberfläche suchst, dann bin ich wirklich nicht Du, denn ich bin dahinter, darunter. Was Dich heute wirklich erschreckt hat, war, dass Du erstmals, in Deiner Not, nicht nur die Oberfläche Deines Gegenübers gesehen hast, sondern das Dahinter und das Darunter, das Wirkliche! Du hast Dir selbst ins Herz geschaut. – Habe keine Angst, in mir siehst Du nur Dein unverfälschtes, ungeschöntes und ungeschminktes Du. Diese Wahrheit mag Dich im Moment erschrecken, aber sie wird Dich heilen.

Viele Menschen versuchen sich in den Menschen zu finden, die sie mögen und lieben. Sie spiegeln sich in sie hinein und wollen ihr Selbst in dem entdecken, was zurückkommt. Aber das geht nicht, ihr Selbst wird im anderen und durch den anderen verformt und liebevoll verschönt, höflich verändert. Was zurückkommt, kann Dir schmeicheln, aber ist nicht wahr und wirklich.

Dich selbst kannst Du nur, unter Deiner Oberfläche finden, in Dir. Nehme Dir doch Zeit und Ruhe dafür und sehe öfter in Dein Spiegelbild, in Dein Herz.“

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